Text fuer den Katalog MAAM. 2017

Wir befinden uns etwas abseits, auf der Straße, die entlang der
Piazza Perù verläuft, neben der Piazza                        – auf deren
Schild noch kein Name steht. „LA CITTA’ E’ DI CHI SE LA
GIOCA“ (DIE STADT GEHÖRT DENEN, DIE ETWAS AUFS
SPIEL SETZEN) wurde auf die Mauer am Spielfeldrand
gesprayed . Die weißen Linien auf den Kunstrasen-Stücken
passen nicht genau zusammen, das Puzzle fügt sich dennoch,
denn hier wir jeden Tag Fuβball gespielt. Fußballspiele
auβerhalb der Box – sie haben nichts mit der Abbildung auf
einer Puzzleschaltel gemeinsam, jauch wenn das Spiel so tut
als ob es sie enthalten würde. Ein paar Schritte von hier
entfernt habe ich la Tenda verankert. Ihr Parcours ist
rückwärts dargestellt: erst 15 Kilometer dann 7…La Tenda al
MAAM kann potentiell alle fassen. Es ist ein Ort, der den Linien
seiner eigenen Zeichnung folgt, eine Geographie ignorierend,
die uns trennt und nicht mehr unseren Routen entspricht.
Vertikale Linien ziehen sich durch eine aufgelassene Halle, eine
Vertikalität, die keine feste Pose einnimmt. Wie die Tauben, die
diese grauen Kreis bewohnen. La Tenda ist umfassend. Der
Horizont ist nicht definiert, er trifft nicht mehr auf die Erde . E r
schwebt und kann sich vorwagen , um neue Wege und
Anhaltspunkte zu suchen. Samtbänder zeichnen magnetische
Meridiane auf dem Metall dieser Wände, wo Farbe auf Geste
trifft, Grenzen negiert werden und sich Spalten auf ein
mögliches Panorama öffnen. Die Aussicht eines Kontakts ohne
Kompass, außer jenem des entgegenstreckenden,
begegnenden Körpers. La Tenda empfing hier die offenen
Proben des Theaterstücks Black is the new Black mit seinen
Körpern, die auf ihre reine Körperlichkeit reduziert, in einem
finalen Lachen eine Geste voller Leben vollführen. La Tenda
entdeckte Joanna Barros wieder und wendete ihre Theorie des
Sprungs kurzerhand auf den eigenen Eingang an: “Mustafa, um
in das Zelt zu kommen, musst du springen!” – “Aber ich bin
noch nie in mein Leben gesprungen”, sagt er lachend,
ausweichend. Am Ende wird auch Mustafa springen.Joanna,
die ihren Körper der Performance I only escape through the exit
door geliehen hat. Mit geschlossenen Augen, blind für die
Linien, die sich im Dunklen auf dem ganzen Farbspektrum
entfalten, auch auf jener Skala, die wir nicht wahrnehmen und
mit den Knoten eines Zeltes auf hoher See. La Tenda hat
Gianluca Tullio und seiner Ausstellung Ghetto Italia Raum
gegeben, Schnappschüsse und Zeugnisse von entsetzlich
nahen und gleichzeitig versteckten Landschaften, Panoramen
die den Anderen nicht wiedererkennen. La Tenda wurde durch
Werfen, Durchschreiten, Knüpfen aufgestellt, der Körper wird
auf das Bedürfnis einer Geste reduziert. Der Horizont der Tenda
ist nicht mehr fernes Ziel, sondern nächster Schritt, Sprung der
zum Weg wird in einer windigen Geographie, deren Ufer und
Koordinaten verloren gegangen sind und keinen Anhaltspunkt
mehr bieten.“Seid ihr hier in Afrika?”, fragt mich Florin. “Wir sind
in Riace”, antworte ich, in Kalabrien und mit den Kindern , die
du hier siehst , haben wir la Tenda aus 7 Kilometern Farbe über
das ganze Dorf aufgestellt. Als ich mit dem Finger über das
Schwarz-Weiβ-Foto fahre, laufen Davide, Ilham, Feven und
Ilias Linien Richtung Hauptplatz. “7 km ist die Entfernung von
Riace zum Meer, aus dem alle gekommen sind. Auch mit ihnen
haben wir einige Linien der Tenda gezogen… “Der Kleinste auf
dem Bild”, erkläre ich ihm, “ist mein Sohn.” Elia, der jetzt sechs
Jahre alt ist , spielt gerade auf dem Spielfeld vor der Halle
Fußball. La Tenda ist durch ihn entstanden, mit der Frage, ob
es einen Ort geben könnte, an dem die Kunst das Leben
beschützt. La Tenda ist als Amulett entstanden, als buntes
Spielzeug, als Zirkus für Zeichnungen, alle möglichen
Koordinaten für seine kleinen Finger, ein von Kultobjekten
befreites Land für seine Vorstellungskraft, aber auch als
Zuflucht einer Exilmutterschaft, ohne fixe Bleibe, ohne Väter ,
ausgesetzt den zeitlichen Koordinaten. Sie wächst und nimmt
die Straße ein. Sie ist eine Fahne, die währen der 15 Kilometer
lagen Prozession getragen wird und sich wiederfindet in den
Farben, die dem Diskurs entzogen wurden und sich am
Eingang der Halle von Francesco Bancheri in eine Geste
gewandelt haben. La Tenda hat seine Kilometer mit Farben
geschmückt. Durch das Werfen von Steinen, durch das
Verknüpfen eines Dachs mit einer Tür mit einer Straße, mit
Händen und Füßen, die gebrochenen Linien des Feldes
entlangdribbelt, um andere zu finden. La Tenda ist auch als
Wette entstanden. Eine Wette, die von Mal zu Mal neu
abgeschlossen wird: im Dialog mit Susanne Rieper, ohne die La
Tenda und viele ihrer Abschnitte nicht zustande gekommen
wären. Sie hat L a Tenda mit dem Einsatz Ihres Grenz-Körpers
und ihrer Präsenz bereichert. Oder mit Sylvie und Charlotte, die
ich während meiner Arbeit kennen gelernt habe und die uns für
ihren Dokumentarfilm P(ose) ta bombe interviewt haben. Sie
haben unsere Wette mit jener vieler anderer Frauen, von
Marokko bis Rom, in Verbindung gebracht. Immer mit Farbdose
und Kamera in der Hand. Eine Wette haben wir bereits
gewonnen, als ich versuchte, meinem Vater klar zu machen,
dass das Fußballfeld von Metropoliz und Daniel für die Kinder
dort gebaut wurde. Als ich ihm ein Video zum Beweis zeigte
beharrte Vater darauf, dass dies nicht möglich sei und die
Anlage bestimmt schon vor der Besetzung durch das MAAM
existierte und wahrscheinlich von der Firma Fiorucci für ihre
Angestellten errichtet worden war…
La Tenda findet in der Halle auch jene Hingabe, jene Risse,
Krater und Spuren anderer Geschichten, jene Fetzen und
giftige Überreste, die immer noch ein Teil davon sind.
Durchwoben von dieser Zerbrechlichkeit, macht L a Tenda aus
dem Aufgeben die Strategie ihres staatenlosen Vorankommens,
durch die Selbstaufgabe gibt sie der Leere nach, empfängt den
Riss, ja verkörpert ihn wann möglich. Cipian mach t e diese
Erfahrung, indem er zusammen mit Susanne die Halle
abschreitet e . Beim zweiten Rundgang sind ihre Schuhe
geschüzt durch Plastiksäcke, nachdem wir sie nach dem ersten
Rungang gründlich reinigen mussten: der enge Bereich vor der
Halle ist schmutzig und mit Müll übersät. Mit der gelben
Spraydose in der Hand erreicht Susanne den Punkt, wo das
Gelb hingehört, draußen, hinter dem Blech – “Ich bin
hier…siehst du meine Hand?” “Siehst du mich?” – “Ja, ich sehe
dich”. Valeria Sanguini (Übersetzung: Silvia Crepaz)